Vom Nutzen und Nachteil der Mathematikgeschichte für das Lehramtsstudium

Autor/innen

  • Gregor Nickel Universität Siegen

Abstract

Auch wenn der Titel dieses Aufsatzesauf Friedrich Nietzsches bekannte, zweite unzeitgemäße Betrachtung (vgl. [16, pp. 209]) anspielt, möchte ich einer sinngemäßen Übertragung seiner Diagnose, das Leben der Zeitgenossen leide an einem Übermaß an historischem Sinn, gerade nicht zustimmen. Bei der derzeitigen Situation im schulischen Mathematikunterricht wie auch im mathematischen Lehramtsstudium kann sicherlich kaum von einem solchen Übermaß die Rede sein – im Gegenteil: Mathematik wird in aller Regel fast vollständig ahistorisch vermittelt. Dies liegt vermutlich nicht zuletzt an dem merkwürdig überzeitlichen Charakter des Fachs selbst. Wenn es den Anschein hat, als seien alle (historisch kontingenten) Hervorbringungen der Mathematik eigentlich nur (bessere oder schlechtere) Abbilder Ewiger Formen, einer mathematica perennis, so spielen die vergangenen Gestalten und die historische Entwicklung keine Rolle; sie werden u. U. sogar als störend empfunden. In der Tat gelingt es der Mathematik offenbar wie kaum einer anderen Wissenschaft kumulativ voranzuschreiten. Ältere Erkenntnisse werden in eine aktuelle sprachliche und formale Darstellung transformiert, dabei in der Regel vereinfacht, z.T. sogar trivialisiert, während die konkrete historische Gestalt und der präformale Kontext einschließlich Motivationen und intendierter Anwendungen vergessen werden (dürfen). In diesem Sinne scheint Nietzsches Überzeugung, es sei „ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben“ ([16, p. 213]), in der Mathematik nicht nur mit Bezug auf das radikale Ausblenden störender, konkreter Details beim jeweiligen Abstraktionsprozess (vgl. hierzu [3, pp. 41]), sondern eben auch in Bezug auf die eigene Geschichte zum Programm zu werden. Der mathematische Gehalt scheint dabei verlustlos bestehen zu bleiben bzw. in Verallgemeinerungen aufgehoben zu werden. Zudem liegen genügend Schwierigkeiten in der Sache selbst. Die Darstellung historischer Aspekte wirkt dann wie eine zusätzliche Belastung, auf die schon aus Zeitgründen verzichtet wird.

 

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